Wenn der G20 im Juli 2017 nach Hamburg kommt, sehen wir keinen Erfolg in einer Mobilisierung, die viele Menschen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner versammelt und von der am Ende wenig mehr bleibt als simple Botschaften. Wir sind stattdessen für eine politische Differenzkultur mit utopischem Überschuss, die notwendige Radikalisierungen im Handgemenge nicht nur zulässt, sondern beabsichtigt. Ohne radikale Antworten lassen sich die zentralen politischen Fragen der Gegenwart nicht lösen, der Klimawandel nicht stoppen, Armut und Grenzen nicht abschaffen. Wie sich gesellschaftliche Kämpfe und Utopien in diese Richtung weiterentwickeln können, ist für uns eine zentrale Herausforderung der Zeit.
In diesem Thesenpapier wollen wir mögliche Zielsetzungen und Perspektiven autonomer und unabhängiger Mobilisierungen gegen den G20-Gipfel in Hamburg umreißen, aber auch Fallstricke und Grenzen darstellen.
I. Antikapitalistische Zustände als realexistierende Perspektive stark machen
Nach dem Niedergang des Staatssozialismus als realexistierendes Gegenmodell zum Kapitalismus wurden trügerische Hoffnungen auf einen globalen Siegeszug dieses Systems als beste aller möglichen Welten propagiert. Diese wurden jedoch enttäuscht: Die Öffnung von Märkten hat ebenso wenig die Menschen befreit wie die Welt sicherer gemacht. Kriege, Hunger- und Umweltkatastrophen sind keine Nebenwirkungen, sondern fest integrierter Bestandteil und Resultat kapitalistischer Konkurrenzkämpfe.
Der aktuelle Aufstieg des Rechtspopulismus und die Zunahme protektionistischer Politiken deutet zudem an, dass die neoliberale Globalisierung, wie wir sie bisher kannten, an ihre Grenzen gekommen ist. Nach dem Wahlsieg von Trump war von einem Ende der Nachkriegsordnung zu lesen. Wenn dies zutreffen sollte, dann geht es während der Proteste rund um den G20 auch um die Frage, wie zukunftsfähig antikapitalistische Perspektiven und Praktiken sind.
Wir halten es in dieser Situation für zentral und notwendig, Ideen radikaler Gesellschaftsveränderung sichtbar zu machen, in ihrem Sinne einzugreifen und gesellschaftliche Diskurse emanzipatorisch zu verschieben. Aneignungskämpfe stellen in der Phase der kommenden ökonomischen Neuordnung eine ebenso wichtige Gegenrealität dar wie die Autonomie der Migration und die solidarische Intervention gegen die Ein- und Ausschlüsse bürgerlicher Leitkulturen.
Dabei richten wir unsere politischen Forderungen nicht an bürgerlicher Akzeptanz und Gesellschaftsfähigkeit aus. Unsere Klammer ist nicht, was unter der gegenwärtigen politischen Hegemonie als konsens- und politikfähig gilt, sondern was aus politischer und ethischer Sicht nicht als Verhandlungsmasse auf dem Altar der Realpolitik geopfert werden darf.
Dass Geflüchtete an den Mauern und Zäunen des europäischen Grenzregimes stranden oder im Mittelmeer ertrinken, ist Ausdruck entmenschlichender Zustände, die wir ebenso wenig als unveränderlich anerkennen wie Armut, kapitalistische Zwänge, heterosexistische Männergewalt oder Kriege.
Wenn wir Perspektiven für eine umfassende Gesellschaftsveränderung lebendig erhalten wollen, dürfen wir keine Institution der etablierten Politikberatung werden, uns nicht zum Teil der Elendsverwaltung und des Wettbewerbs um Reformen innerhalb des Bestehenden machen. Statt Politik auf der Suche nach einem gesamtgesellschaftlichen Konsens zu betreiben, sprechen wir uns für Brüche, Differenzen und Streitkultur aus.
Wir müssen an die Wurzel gehende Kritik entwickeln, um neue Fragen zu stellen und neue Hoffnungen und Sehnsüchte zu erwecken. Ohne das Selbstbewusstsein, radikale Forderungen zu vertreten, ohne Raum für unabhängige Stimmen und widerständige Praktiken lassen sich Nationalismus und Grenzen ebenso wenig abschaffen wie das Privateigentum aufheben oder Verwertungszwang und Lohnarbeit überwinden.
II. Rechtspopulismus als politische Strömung auf- und angreifen
Ein Teil des aktuellen Erfolges rechtspopulistischer Strömungen beruht auf der Mobilisierung wütender Ressentiments: Eine Mischung nationalkonservativer, faschistischer und protektionistischer Ideologiefragmente mit Zielsetzungen auf den „weißen Arbeiter“ und „den kleinen Mann“, genährt vom Hass auf wahrgenommene Minderheiten und ein als zu liberal empfundenes Establishment, befeuert von Verschwörungstheorien und Legendenbildungen in sozialen Netzwerken.
Bündnisse, die sich erst erklärtermaßen nach nach Rechts abgrenzen müssen, offenbaren dabei eine fehlende politische Bestimmung. Positionierungen gegen globalisierten Kapitalismus müssen untrennbar verwoben sein mit den Kämpfen gegen rassistische, antisemitische oder homophone Bilderwelten und Zustände. Ein Protest, der Kapitalismus auf Staatsoberhäupter und Manager reduziert, oder ihn in Kraken und Schweinen denkt, besitzt eine offene Flanke zu Rechtspopulismus und faschistischen Ideologien. Mehr noch, er ist nicht in der Lage, antikapitalistische Perspektiven zu entwickeln und verbleibt in patriarchalen und autoritären Bilderwelten.
Rassismus und Nationalismus, wie sie sich in den Wahlerfolgen von Trump in den USA, beim Brexit in Großbritannien oder im Aufstieg der AfD in Deutschland ausdrücken, sind in der Mitte der Gesellschaft verankert. Linke Bewegungen müssen nicht zuletzt deswegen einen klaren Bruch mit Autoritäten und Argumentationen herstellen, die für sich in Anspruch nehmen, die Interessen und Privilegien dieser „Mitte“ als hegemoniale Identität zu vertreten oder zu verteidigen.
Wir lehnen einen linken Populismus ab, der Ressentiments abfischt und kurzfristig auf Skandalisierung setzt. Eine mögliche Ausrichtung der Proteste auf einzelne Akteure im Zentrum halten wir für falsch. G20-Proteste, die in Wirkung und Erinnerung vor allem als Anti-Trump, Anti-Erdogan oder Anti-Putin-Proteste bleiben, liefern keine Antworten auf die gegenwärtigen Fragen und Umbrüche. Sie führen im schlimmsten Fall zum Schulterschluss mit europäischen und deutschen Interessen, die sich als moderate Kraft der Globalisierung eines besseren, weil gebändigten Kapitalismus darstellen.
III. Für kulturelle und politische Verunsicherung –
Die Verdichtung von Unterschiedlichkeiten auf die Straße tragen
Der Gipfel findet auf einem innerstädtischen, räumlich verdichteten Terrain statt. Diese Verdichtung fordert von allen Akteur*innen ein Einlassen auf neue Erfahrungen und einen Verzicht auf hegemoniale Ansprüche. Alle Beteiligten müssen sich im Klaren darüber sein, dass sich in Hamburg unterschiedliche Protest- und Aktionsformen auf der Straße begegnen werden. Wir denken, die Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg werden völlig anders verlaufen, als alle es sich bisher vorstellen. Und wir betrachten alle als eingeladen, an diesem Verlauf als einem offenen Experiment teilzuhaben.
In Hamburg gibt es eine lange, gelebte Geschichte unterschiedlicher Kämpfe und Protestformen, Erfahrungen zwischen Gefahrengebieten, Projekten wie der Roten Flora, dem Widerstand gegen rassistische Kontrollen oder gegen Großprojekte. Diese lokale Basis wird auch die kommenden Ereignisse mit beeinflussen. Hinzu kommen Protestspektren und Aktivist*innen aus vielen anderen Ländern, die eigene Erfahrungen und eigene politische Perspektiven mitbringen und für sich selbst sprechen werden. Die Autonomie von Bewegungen und Akteur*innen ist dabei gut und nicht schlecht.
Geordnete, mahnende Proteste nach den jeweils vorherrschenden moralischen Maßstäben und Spielregeln sind das Mittel jener, die an der bestehenden Gesellschaftsordnung teilhaben wollen und können. Der Protest gegen den G20 wird aber auch andere Akteur*innen versammeln. Den als nicht gesellschaftsfähig wahrgenommenen „Bodensatz“ der Globalisierung, die Kriminalisierten und die Wütenden, die Abtrünnigen und die Suchenden. Auch deren Stimmen haben Gewicht, auch deren Erfahrungen und Protestformen haben eine Legitimität, die verteidigt werden muss.
Wir werden uns keine Welt schaffen, auch keine Protestwelt, in der nur eine Wahrheit zählt. Wir lehnen Hegemoniebestrebungen ab, die für Demonstrationen und Proteste allgemeingültige Regeln aufstellen und so definieren wollen, wer oder was als Protest politisch anerkannt wird. Wir nehmen zu Aktionsformen und Auseinandersetzungen ein grundsätzlich solidarisches Verhältnis ein und erwarten von allen anderen, die sich als Teil des linken Protestspektrums sehen, ein ebenso solidarisches Verhältnis. Dies ist eine Herausforderung für alle politischen Spektren und erfordert einen respektvollen gegenseitigen Umgang, der die Unterschiedlichkeit von Protestformen zulässt, ohne sich selbst zur Avantgarde zu erklären oder Führungsrollen zu beanspruchen.
Wir sehen Hamburg im Juli 2017 eher als belebten Platz anstatt als eindeutigen und strukturierten Ort. Es liegt an uns, Zugänglichkeit und Bewegungsfreiheit herzustellen, Inhalte in diesen Raum hineinzutragen, Orte des Zusammenkommens zu schaffen und Zerstreuungen zu ermöglichen.
IV. Für das Ende des Machbaren und die Renaissance des revolutionären Experiments
Machbarkeit und Umsetzbarkeit sind der Fetisch der Mehrheitsfähigkeit und des realexistierenden Elends. Ein gesellschaftliches System von Aus- und Einschlüssen schafft jene verrohte Leitkultur der gesellschaftlichen Mitte, welche die vermeintlichen Grenzen des politisch Möglichen und Legitimen definieren soll. Eines ist aber klar: Auf der Ebene von überarbeiteten Klimazielen und verbesserten Quoten für Flüchtlinge ist eine andere Welt nicht zu haben. Mit der Sachlichkeit einer ebenso berechnenden wie berechenbaren Politik lassen sich Ausbeutungsverhältnisse und globale Zerstörung nicht kippen. Was wir brauchen, sind Revolten und Revolutionen. Gelebte Realitäten auf der Straße statt Selbstdomestizierungen im politischen Konsens.
Voraussichtlich wird auf dem Gipfel auch ein Wettstreit zwischen den Modellen neoliberaler Globalisierung und nationalstaatlichem Protektionismus ausgetragen. Es liegt an uns, zum Ausdruck zu bringen, dass es sich nicht um zwei grundsätzlich verschiedene Konzepte handelt, sondern beiden dasselbe kapitalistische Fundament zugrunde liegt, welches es gemeinsam niederzureißen gilt.
Rassismus, Antisemitismus, Homophonie, Sexismus und patriarchale Verhaltensweisen sind und bleiben unvereinbar mit der Idee einer emanzipatorischen Welt. Antifaschismus ist eine notwendige Perspektive in sozialen Bewegungen. Dies soll und muss sich auch in den Protesten gegen den G20 in Hamburg ausdrücken.
Wir sehen uns nicht als mahnende Stimme im Wettbewerb des kapitalistischen Elends, sondern als Teil derjenigen, die es hier nicht mehr aushalten wollen, die eine verordnete Alternativlosigkeit der kapitalistischen Verhältnisse nicht akzeptieren. Wir wollen eine andere Form gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wir suchen dabei nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner oder den Kompromiss, sondern Brüche und Experimente für eine Welt, in der viele Welten möglich sind.
Unser Ziel ist eine solche Radikalisierung der Gesellschaft. Daran misst sich für uns der Erfolg der Proteste gegen den G20-Gipfel, mit diesem Hintergrund beteiligen wir uns an der internationalen Mobilisierung nach Hamburg, mit dieser Haltung bewegen und begegnen wir uns mit vielen anderen auf Demonstrationen und Plätzen.